Die Gestaltprinzipien bilden einen psychologischen Rahmen dafür, wie der menschliche Verstand visuelle Informationen wahrnimmt und ordnet. Die Theorie dahinter wurde in den 1910er und 1920er-Jahren von den deutschen Psychologen May Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka begründet. Seitdem hat sie in verschiedenen Disziplinen von der Therapie über die Kybernetik bis zum Design Eingang gefunden.

Das Wort Gestalt trifft es gut, denn die Theorie beschreibt, wie der Verstand aus scheinbarer Beliebigkeit bekannte Formen macht. Nehmen wir zum Beispiel Musik: Unser Gehirn ist so ausgelegt, dass es aus dem, was wir hören, zusammenhängende Melodien macht, statt jede Note einzeln wahrzunehmen.
Für Grafikdesigner ist die Anwendung der Gestaltprinzipien ein essenzielles Tool: Designer können visuelle Zusammenhänge hervorheben und effektiver kommunizieren, wenn sie verstehen, wie Betrachter visuelle Information interpretieren. In diesem Artikel sehen wir uns diese Gestaltprinzipien genauer an und schauen, wie man sie auf Design anwendet. Um aber die visuellen Zusammenhänge besser zu verstehen, lass uns zunächst einen Blick auf einige wichtige Wahrnehmungskonzepte werfen.
Einige andere Wahrnehmungskonzepte
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Die Gestalttheorie selbst beschreibt, wie visuelle Elemente gruppiert und separiert werden, um mithilfe stabiler Formen Ordnung zu erzeugen. Aber es gibt noch eine Reihe anderer zugrunde liegender psychologischer Konzepte in Bezug auf die Wahrnehmung, die unser Verständnis der Gestalttheorie prägen (welche über die Wahrnehmung hinausgeht, um visuelle Zusammenhänge zu beschreiben). Lass uns kurz ein paar davon betrachten:






- Emergenz: Die gesamte Form des Objekts wird noch vor seinen Einzelteilen verstanden.
- Reifikation: Das Auge neigt dazu, selbst ohne explizite Details Lücken auszufüllen und Formen zu erzeugen. Bei Negativräumen geht es zum Beispiel darum, Formen aus Lücken zu schaffen, so wie beim versteckten Pfeil im Logo von FedEx.
- Invarianz: Die Menschen erkennen ähnliche Formen, selbst wenn sie in Farbe, Größe, Ausrichtung oder Gewicht variieren.
- Multistabile Wahrnehmung: Wenn es mehr als eine mögliche Interpretation einer mehrdeutigen Form gibt, wird das Auge jede Interpretation gleichzeitig wahrnehmen. Das Auge versucht also immer, instabile Formen aufzulösen, und in dem Fall, in dem es mehrere Optionen für die Stabilität gibt, wird das Auge zwischen mehreren Interpretationen hin- und herspringen. Dies kommt häufig bei optischen Täuschungen wie der Rubinschen Vase vor.
- Figur-Grund-Wahrnehmung: Das Auge ordnet Formen im dreidimensionalen Raum und trennt Elemente in Hintergrund und Vordergrund. Dies gilt auch, wenn das Vordergrundelement vollkommen flach ist: Das Auge sieht alles, was das Motiv umgibt, als Hintergrund.
- Vergangene Erfahrung: Subjektive oder kulturelle Erfahrungen beeinflussen, wie eine Form interpretiert wird.
Die 6 Gestaltprinzipien des Designs
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Lass uns nun mit den obigen Wahrnehmungskonzepten im Hinterkopf einen Blick auf die Gestaltprinzipien werfen.
Einfachheit
Das Prinzip der Einfachheit besagt, dass das Auge instinktiv die einfachste Form interpretieren wird. Das bedeutet, dass der Verstand, wenn ihm ein Bild mit mehreren Formen präsentiert wird, diese möglicherweise voneinander trennt oder sie gruppiert, abhängig davon, welche Lösung die unkomplizierteste ist.
Obwohl das gezeigte Bild aus drei identischen, überlappenden Formen oder achtzehn einzelnen Linien bestehen könnte, nehmen wir eher ersteres an, da dies die einfachere optische Lösung ist.

Auch wenn es wichtig ist, ist das Gesetz der Einfachheit nicht so einfach zu definieren wie andere Gestaltprinzipien. Designer müssen ihr Urteilsvermögen nutzen, wenn sie darüber entscheiden, welche Interpretation einer Komposition der Betrachter am einfachsten finden wird. Oftmals geben grundlegende Geometrie und vergangene Erfahrungen die Antwort, da es Betrachtern leichter fällt, Formen zu interpretieren, die ihnen bereits vertraut sind.


Schauen wir uns zwei Beispiele an. In einem Beispiel ist die gesamte Form die einfachste und im anderen die einzelnen Formen. Im Logo von Bluefox hat die Emergenz Vorrang, da es einfacher ist, die Komposition als erkennbare Tiersilhouette zu verstehen, statt sich auf die einzelnen Dreiecke, Karos und Linien zu konzentrieren.
Auf der anderen Seite werden im Logo von LMAD leichter drei überlappende Dreiecke wahrgenommen, da die kombinierte Form keine vereinfachte, wiedererkennbare Form ergibt. Deshalb hebt KisaDesign diese Interpretation durch verschiedene Farben für jedes Dreieck hervor.
Nähe
Nähe beschreibt den räumlichen Zusammenhang zwischen Objekten in Hinblick darauf, ob sie nah beinander oder weit voneinander entfernt sind.
Das Gestaltprinzip der Nähe besagt, dass Objekte, die nah beieinander sind, eine gemeinsame Gruppierung bilden, selbst wenn sie nicht direkt miteinander in Kontakt kommen. Dieses Prinzip gilt unabhängig davon, ob nah beieinander liegende Objekte sich auf andere Arten wie Größe, Farbe und Form unterscheiden.
Ein klassisches Beispiel dafür sind Wörter auf einer Seite: Wir verstehen, dass Buchstaben eine bestimmte Gruppe bilden, zum Beispiel ein Wort, wenn ein Leerzeichen sie von anderen Gruppierungen von Buchstaben trennt.




Auf ähnliche Weise können Designer Nähe nutzen, um eine Gruppenbeziehung zu implizieren, ohne auf diese Beziehung ausdrücklich hinzuweisen. Das Posterdesign von M.m. beispielsweise nutzt Nähe, um durch einfache, abstrakte Formen Motive wie Einheit und Isolation zu vermitteln. Am nützlichsten ist Nähe, um eine visuelle Hierarchie im Design zu schaffen. Das Gruppieren und Unterteilen von Textabschnitten mit Weißraum ermöglicht es den Betrachtern, wichtige Informationen auf Postern, in Broschüren und auf Webseiten zu ordnen.
Ähnlichkeit
Das Gestaltprinzip der Ähnlichkeit besagt, dass Objekte mit ähnlichen Eigenschaften als zur gleichen Gruppe gehörig verstanden werden. Bei diesen Eigenschaften handelt es sich generell um die physischen und visuellen Attribute eines Objekts wie Farbe, Textur und Form.
Ein Beispiel dafür wäre die Unterteilung von Kleidung in Gruppen – z. B. T-Shirts, Hemden, Westen, Hosen etc. – basierend auf ihrer Form, selbst wenn sie in einem Kleiderschrank vermischt werden.

Wenn sie Elemente ähnlich aufbauen, haben Designer die Freiheit, die Anordnung zu variieren, ohne den Betrachter zu verwirren. Im Logo von Stacked unten sind die Formen nicht aufeinander ausgerichtet oder haben sogar exakt die gleiche Form, aber wir verstehen, dass sie zur selben Gruppe gehören, da sie dieselbe Farbe und Schattierung haben.
Designer können auch das Gegenteil des Ähnlichkeitsprinzips nutzen. Sie können also Designelemente bewusst ungleich gestalten, um zu verhindern, dass diese als Gruppe wahrgenommen werden. Das Skyline-Logo besteht zum Beispiel aus Formen in ähnlicher Farbe, die nah beieinander angeordnet sind, aber die ungleichen Eigenschaften ermöglichen es uns, sie getrennt voneinander wahrzunehmen: Statt einer abstrakten Form sehen wir angedeutete Berge, Kiefern und den Himmel.
Ungleichheit kann auch Dinge hervorheben, wenn das Verhältnis von ähnlich zu unähnlich ungleich ist. Im Logo von IRYSS zum Beispiel hat eine Form eine andere Farbe als der Rest und fungiert so als Mittelpunkt und zieht den Blick auf sich.
Gemeinsames Schicksal
Das Gestaltprinzip des gemeinsamen Schicksals besagt, dass Objekte als Teil einer Gruppe wahrgenommen werden, wenn sie auf derselben Bahn platziert sind. Es wird also angenommen, dass Objekte, die sich auf ein und derselben unsichtbaren Linie befinden, zusammenhängen. In diesem Bild nehmen wir beispielsweise die verschiedenen Teile der Flügel des Schmetterlings wahr, obwohl sie aus abstrakten Formen bestehen, die sich in ähnliche Richtungen bewegen.

Gemeinsames Schicksal impliziert häufig Bewegung und ist nützlich für Designer, die Striche hervorheben wollen. Schau dir die einzelnen Rundungen des Kirem-Logos unten an: Gemeinsames Schicksal erzeugt eine implizierte Bewegung, sodass wir beinahe sehen können, wie jeder Strich, der den Buchstaben bildet, vor unseren Augen geschrieben wird. Ähnlichkeit und Nähe bringen diese Formen zusammen, um einen fertigen Buchstaben zu erzeugen.


Gemeinsames Schicksal kann auch nützlich sein, um 3D-Formen zu erzeugen. Im Logo von PurPapier zum Beispiel bewegt sich die größere Form in eine Richtung und die überlappende graue Form in die entgegengesetzte, was impliziert, dass sie zu den getrennten Gruppen Vordergrund und Hintergrund gehören.
Fortsetzung
Das Gestaltprinzip der Fortsetzung besagt, dass das menschliche Auge einer Linie über ihren Endpunkt hinaus folgt, um eine plötzliche Unterbrechung zu vermeiden. Das gezeigte Beispiel könnte im Grunde aus mehreren Linien bestehen, aber wir nehmen die Pfade als vier sich kreuzende Linien wahr, da das Auge weiche, ununterbrochene Fortsetzung bevorzugt.

Dieses Prinzip ist besonders nützlich für Strichzeichnungen und Illustrationen. Zu verstehen, wie das Auge einzelnen Strichen folgt und diese verbindet, ermöglicht es dem Illustrator, die angestrebte Figur bewusst zusammenhängend zu halten.

Es ermöglicht Designern auch, überlappende Linien zu ihrem Vorteil zu nutzen: Die Betrachter werden verstehen, dass eine überlappende Linie noch immer eine Einheit ist, wenn sie demselben Pfad folgt. Dies gilt unabhängig davon, ob sich andere Eigenschaften wie Farbe oder Dicke unterscheiden.
Zum Beispiel könnte das Kasella-Logo aufgrund der unterschiedlichen Farben als eine Reihe divergierender Pfeile gesehen werden, aber das Gesetz der Fortsetzung erlaubt uns, trotz der Unterbrechung die konvergierenden Linien eines „K“ zu sehen.
Geschlossenheit
Das Gestaltprinzip der Geschlossenheit besagt, dass das Auge eine vollendete Form wahrnimmt, selbst wenn Teile der Form fehlen oder unvollständig sind – mit anderen Worten besteht die Tendenz, partielle visuelle Informationen aufzulösen. Ein klassisches Beispiel ist die gepunktete Linie, bei der die Menschen eher eine vollständige Form sehen, statt unzusammenhängende kurze Linien.

Geschlossenheit ermöglicht es Designern, Figuren in ihre einfachste mögliche Form zu zerlegen und kann nützlich für minimalistische Arrangements sein. Im Logo von uncoil.io nutzt der Betrachter Geschlossenheit, um die sich überlappenden Windungen einer Schlage zu erkennen, ohne sie tatsächlich zu sehen.
Dieser Ansatz ist besonders nützlich, wenn er in Kombination mit vergangener Erfahrung genutzt wird. Im Logo von kickstand erlaubt uns unser vorgefaßtes Verständnis einer Fahrradform, die fehlenden Verbindungen zwischen den abstrakten Dreiecken und Kreisen durch Geschlossenheit zu ergänzen.
Setze diese Gestaltprinzipien in die Tat um
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Die 6 Gestaltprinzipien beschreiben die Psychologie dahinter, wie Menschen visuelle Informationen interpretieren. Grafikdesigner, die Architekten visueller Information, sollten sie kennen. Ein gutes Verständnis der Gestaltprinzipien ermöglicht es Designern, die Wahrnehmung des Betrachters bewusst und zielgerichtet zu lenken, statt sich auf Bauchgefühle zu verlassen.
Am Ende des Tages ist Gestalttheorie nur ein Mittel zum Zweck. Wenn du Unternehmensinhaber bist und die Art und Weise verbessern willst, wie deine Markendesigns wahrgenommen werden, wirst du sowohl Gestaltpsychologie als auch einen talentierten Designer brauchen.
Dieser Artikel wurde ursprünglich von Alex Bigman verfasst und 2014 veröffentlicht. Er wurde um neue Beispiele und Informationen ergänzt.